„Die geologischen und hydrogeologischen Verhältnisse, unter denen unsere Maschinen arbeiten, sind sehr vielfältig“
sagt Matthias Schwärzel, der als Division Manager im Project Management Traffic Tunnelling für Herrenknecht schon zahlreiche Tunnelbauprojekte federführend begleitete. „Sie stellen Bauherren, Planer und bauausführende Unternehmen immer wieder vor projektspezifische Herausforderungen. Um einen optimalen Vortrieb in jedem Terrain zu gewährleisten, designen wir die verwendeten Vortriebsverfahren in enger Abstimmung mit unseren Kunden spezifisch für jedes individuelle Bauvorhaben. Das ist ein Treiber für Technologiefortschritt, da wir regelmäßig neue Lösungen finden müssen.“
Für den Tunnelvortrieb in weichen, nicht standfesten Baugründen eignen sich je nach Geologie:
- Erddruckschilde (engl. Earth Pressure Balance Shield, kurz EPB)
- Mixschilde
- Multi-Mode-TBM
Die neu entwickelte Variable-Density-Technologie kombiniert Verfahren dieser Maschinentypen für den Einsatz unter besonders anspruchsvollen geologischen Bedingungen.
EPB-Schilde und Mixschilde
In weichen, bindigen Böden mit hohen Ton- oder Schluffanteilen und geringer Wasserdurchlässigkeit sind EPB-Schilde das Mittel der Wahl. Das vom Schneidrad abgebaute Material dient als Stützmedium an der Ortsbrust. Der Abraum wird über einen Schneckenförderer abgeführt und so gleichzeitig der Stützdruck reguliert. Die gezielte Injektion von Wasser, Bentonit oder Schaum zur Konditionierung des Bodens schafft weitere Flexibilität im Vortrieb.
EPB-Schild
Schnelle Vortriebstechnik mit breitem Anwendungsspektrum.Geologie:Weiche Böden Weicher Baugrund mit geringer Wasserdurchlässigkeit (Ton, Schluff, Lehm)
Durchmesser:1,7–16m
Mixschilde dagegen kommen in grobkörnigeren, nicht bindigen und wasserführenden Böden zum Einsatz. Der Materialaustrag aus der Abbaukammer erfolgt über einen Flüssigkeitskreislauf mit angeschlossener Separationsanlage. Die präzise Steuerung des Stützdrucks erfolgt über ein automatisch geregeltes Luftpolster. Dadurch können auch heterogene Geologien und hohe Wasserdrücke bis über 15 Bar selbst mit sehr großen Bohrdurchmessern sicher beherrscht werden.
Mixschild
Sichere Vortriebstechnik für heterogene BaugründeGeologie:Heterogene Böden Heterogener Baugrund mit hoher Wasserdurchlässigkeit und –drücken (Sand, Kies)
Durchmesser:3,7–19m
Einsatzbereich der Maschinentypen je nach Bodenbeschaffenheit
EPB-Schild
für den Einsatz in bindigen Bögen
Mixschild
für den Einsatz in nicht bindigen, heterogenen Böden mit hohen Grundwasserdrücken
Variable-Density-TBM
für den Einsatz in besonders grobem und durchlässigem Baugrund, beispielsweise in mittleren und groben Kiesen sowie in stark geklüftetem und verkasteltem Baugrund
HDSM-Modus
Übergangsmodus Flüssigkeits- / Erddruckmodus
„WIR BEWEGEN UNS HIER IN EINER SPEZIELLEN NISCHE“
Matthias Schwärzel,
Division Manager Project Management Traffic Tunnelling
Von der Multi-Mode-TBM zur Variable-Density-TBM
Technologische Fortschritte haben das Einsatzspektrum klassischer TBM-Vortriebsschilde in den vergangenen Jahren zusätzlich erweitert. „Bei über die Tunneltrasse stark wechselnden Baugrundverhältnissen stoßen Maschinen mit spezifischen Verfahren an ihre technischen und/oder wirtschaftlichen Grenzen“, sagt Matthias Schwärzel. „Zum Beispiel, geologische Schichten unterschiedlichster Zusammensetzung und Ausprägung, geologische Wechselfolgen von stark bindigen, klebrigen Böden bis hin zu grobkörnigem Baugrund oder gar Wechsel von nicht standfestem zu standfestem Gebirge.“
Solche Streckenverläufe gehören zu den anspruchsvollsten Missionen im Tunnelbau. Um sie zu bewältigen, designten Herrenknecht-Ingenieure die Multi-Mode-Tunnelbohrmaschinen. Sie kombinieren die Stütz- und Abbauverfahren von offenem Schild, EPB- und Mixschild und können in mehreren Modi betrieben werden. In Abhängigkeit von den jeweiligen geologischen Gegebenheiten erfolgt im Tunnel der Umbau von einem Modus auf den anderen, beispielsweise vom EPB- zum Mixschild Modus. Eine einzelne Multi-Mode-TBM kann beispielsweise den Einsatz von zwei Maschinen unterschiedlichen Typs für zwei verschiedene Streckenabschnitte ersetzen.
Einen entscheidenden Evolutionsschritt der maschinellen Tunnelvortriebstechnologie realisierte Herrenknecht mit der Variable-Density-TBM. Sie verbindet die Vorteile des EPB- und des Mixschild-Modus‘ in einer einzigen Maschine. Eine komplett konfigurierte Variable-Density-TBM kann ohne große Modifikationen flexibel zwischen vier Vortriebsmodi wechseln.
Das Verfahren ist weltweit einzigartig und deckt einerseits ein großes Einsatzspektrum ab. Andererseits hat sich die Technologie bei besonders hochkomplexen Bedingungen jenseits bisheriger Machbarkeitsgrenzen bewährt. „Wir bewegen uns hier in einer speziellen Nische“, sagt Matthias Schwärzel. „Es ist eine mit sehr großem Potenzial. Das zeigt die Nachfrage.“ In den vergangenen 10 Jahren kam die Variable-Density-TBM bereits bei rund 15 Projekten erfolgreich zum Einsatz. Nächste Meilensteine stehen bereits an.
Optimales Ergebnis dank Slurry-Kreislauf
Sowohl im EPB- als auch im flüssigkeitsgestützten Modus entnimmt die Variable-Density-TBM den Abraum aus der unter Druck stehenden Abbaukammer über einen Schneckenförderer. Die Regelung des Stützdrucks erfolgt je nach Modus über Schneckendrehzahl und Vorschubgeschwindigkeit oder über ein automatisch geregeltes, kompressibles Luftpolster. Im EPB-Modus wird der Abraum von der Schnecke auf ein Förderband abgeworfen und abtransportiert. Im Flüssigkeits- modus gelangt er in einen Förderkreislauf, den sogenannten Slurry-Kreislauf.
Der Slurry-Kreislauf startet in der dem Schneckenförderer unmittelbar angeschlossenen, sogenannten Slurryfierbox, einer Art überdimensionalem Spülkasten. Dort wird abgebautes Material durch die Zugabe von Spülsuspension normaler Dichte (in der Regel Bentonit) oder hoher Dichte in den für den Förderkreislauf optimalen Konsistenz gebracht. Die Suspension wird anschließend in eine angeschlossene Separationsanlage gepumpt, gereinigt und wieder zurück in die Abbaukammer geleitet, um dort die Ortsbrust zu stützen und den sicheren Vortrieb zu gewährleisten.
„Das Verfahren ermöglicht es, besonders grobe und durchlässige Bodenstrukturen, zum Besipiel im Kornverteilungsbereich mittlerer und grober Kiese sowie in stark geklüftetem oder verkarstetem Baugrund, sicher und effizient aufzufahren“, sagt Matthias Schwärzel. Zum Beispiel in hoch durchlässigen Kiesschichten wie beim Bau der Metro von Lyon , einem technologischen Meilenstein des Tunnelbaus, oder wenn entlang der Trasse Karststrukturen, also Hohlräume, existieren, vielleicht sogar mit geringer Überdeckung, also wenig Abstand zur Oberfläche. „Hat die Stützflüssigkeit in solchen Fällen nicht die zum jeweiligen Untergrund passende Dichte, könnte sie im Vortrieb schnell entweichen und im Extremfall mit hohem Druck bis zur Oberfläche durchstoßen und dort größere Schäden anrichten. Die Mechanismen des Slurry-Kreislaufs verhindern das.“
Von Kuala Lumpur bis Perth
Ein Game Changer in Sachen Stadtentwicklung ist der Bau der neuen U-Bahn von Kuala Lumpur, Malaysia: dem Klang Valley Mass Rapid Transit (MRT). Das Großprojekt verbessert die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Personennahverkehrs für über acht Millionen Menschen in der Metropolregion nachhaltig. Der erste Bauabschnitt, die „Blue Line“ von Sungai Buloh nach Kajang, hat eine Länge von 51 Kilometern. Rund 20 Kilometer davon verlaufen durch verkarsteten Kalkstein mit großen unterirdischen Einschlüssen. Um in dem anspruchsvollen Untergrund sicher Tunnel bauen zu können, kamen von 2013 bis 2015 auf insgesamt fast 11,4 Kilometern neben zwei EPB-Schilden von Herrenknecht sechs Variable-Density-TBM zum Einsatz. Es waren die weltweit ersten Variable-Density-TBM überhaupt. Sie haben sich über eine Bauzeit von knapp zwei Jahren bewährt und die Basis für den heutigen Vortrieb in schwierigstem Lockergestein gelegt.
2016 kam eine Variable-Density-TBM bei einem der damals weltweit bedeutendsten und anspruchsvollsten innerstädtischen Tunnelbauprojekte zum Einsatz: der Erweiterung des Metronetzes von Hongkong durch den Shatin to Central Link (SCL). Dafür wurden strategische Lücken im gesamten Hongkonger Metronetz geschlossen. Als besonders sensitiv erwies sich der Vortrieb nahe der Küstenlinie. Der dortige Baugrund besteht aus gemischten Geologien mit Überdeckungen von teilweise lediglich rund 6 Metern. Mithilfe der Variable-Density-TBM konnte aber auch dieses Teilstück ohne Beeinträchtigung unterquert werden. Im November 2017 wurde der Bau der Linie erfolgreich abgeschlossen.
Erst im Februar 2020 schaffte „Grace“ ihren Durchbruch. Neben „Sandy“ ist sie eine von zwei von Herrenknecht am Standort in Guangzhou, China, gebauten Variable-Density-TBM, die ihren Weg durch den heterogenen Baugrund zwischen Forrestfield und Bayswater unterhalb von Perth gruben. Die beiden vom Joint Venture Salini Impregilo – NRW gebauten Tunnel bilden heute den Forrestfield-Airport Link, der die östlichen Stadtteile von Perth und den internationalen Flughafen mit der Innenstadt verbindet. Schätzungen gehen davon aus, dass die Einwohnerzahl von Perth bis 2030 von zwei Millionen Menschen auf 3,2 Millionen steigen wird. Die neue U-Bahn hilft, den gestiegenen Bedarf an Infrastruktur nachhaltig abzufedern. Anstatt 45 Minuten mit dem Auto dauert die Fahrt bis in die Stadtmitte jetzt nur noch 20 Minuten.